Verkehrspolitik: Wie viel Verkehr können wir uns noch leisten?
Wieviel Verkehr können wir uns überhaupt noch leisten? Dass dies die leitende Frage sein muss, darüber bestand Einigkeit, auf dem Podium der Diskussion von Bund Naturschutz (BUND) und Naturschutzbund (NABU) zum Thema "Wie wird der Bundesverkehrswegeplan klima- und naturverträglich?" in Berlin. Diese fand allerdings in Abwesenheit des beim Verkehrswegeplan federführenden Bundesverkehrsministeriums sowie der ebenfalls geladenen bundeseigenen Autobahn GmbH statt, deren Vertreter kurzfristig abgesagt hatten. Immerhin stellte sich der Konterpart vom Bundesministerium für Umwelt und Naturschutz, Christian Kühn, Parlamentarischer Staatssekretär der Debatte. Fachlich schaffte Dr. Philine Gaffron, Technische Universität Hamburg eine umwelt- und verkehrspolitische Einordnung der Bundesverkehrswegeplanung. Und Günther Lichtblau, Fachliche Leitung Klima, Umweltbundesamt GmbH, Österreich gab einen Überblick zum vorbildhaften "Klimacheck in Österreich".
Klimacheck auf Basis der Klimaziele
Lichtblau berichtete über den Klimacheck, mit dem die Regierung in Wien seit 2021 sämtliche Projekte des Verkehrssektors auf Klimaschutzkompatibilität überprüft und auf dieser Basis quasi ein Neubaumoratorium erlassen hat. Ausgangspunkt sei eine Hochrechnung gewesen, wie viel Energieausstoß dem Verkehrssektor überhaupt noch im Rahmen der Klimaziele des Landes zur Verfügung stehen, wenn man bis 2040 Klimaneutralität erreichen wolle. Darauf basierend habe man versucht, diesen Maßstab auf jedes einzelne Verkehrsprojekt herunterzubrechen.
Viele Autobahnprojekte fallen durchs Klimaraster
Ergebnis war eine gründliche und 150 Seiten starke Evaluierung der Autobahngesellschaft Asfinag. Alle geplanten Neubauprojekte wurden dabei auf ihre Zukunftsfähigkeit geprüft. Neben bekannten Kriterien wie der Verkehrssicherheit, der Verkehrsplanung sowie wirtschaftlichen und regionalen Bedürfnissen standen dabei erstmals auch der Schutz von Klima und Umwelt sowie die Eindämmung des Bodenverbrauchs im Zentrum, skizziert das Ministerium aus Wien.
"Moderne und gute Verkehrsplanung soll den Menschen mehr Lebensqualität bringen, anstatt einfach Bestehendes fortzuschreiben. Ausführliche Analysen ergaben, dass der Ausbau des Straßennetzes stets zu mehr Verkehr führt. Klimaschädliche Treibhausgase steigen dadurch ebenso wie oftmals die Belastung durch Lärm und Stau. Eingriffe in sensible Ökosysteme müssen auch im Sinne der abnehmenden Artenvielfalt mit besonderer Vorsicht betrachtet werden. Ausufernde Bodenversiegelung zerstört landwirtschaftliche Flächen und ist nicht zuletzt im Hinblick auf die zunehmenden Extremwetterereignisse ein großes Problem", argumentierte das Ministerium bei Vorstellung der Ergebnisse im Dezember 2021.
Ergebnis der Prüfung unter anderem: Die Lobau-Autobahn wird nicht weiterverfolgt, für den Nordabschnitt der S 1 werden Alternativen geprüft. Auch die S 34 wird nicht in der geplanten Form umgesetzt.
"Die Hochrechnung und selbstverständliche Annahme von immer mehr Verkehr ist grundfalsch. Die Unabdingbarkeit für Klimaschutz muss fachlich klar dargelegt werden", kritisierte Lichtblau.
Für Klimaneutralität, so ergaben die Berechnungen des Ministeriums für Klimaschutz, das im Nachbarland unter den entschlossenen Führung von Leonore Gewessler (Grüne) sinnigerweise auch den Verkehr umfasst, müsse ab sofort eine drastische Reduktion der CO2-Emissionen beginnen. Die reine Elektrifizierung des heute bestehenden Niveaus an Verkehr ergab in der Hochrechnung eine weite Verfehlung der Ziele. Daraus folge, dass man runter müsse mit der Verkehrsleistung. Das habe Folgen für die Planung. Der Grundgedanke dabei müsse sein: "Wie kann man die Mobilitätsbedürfnisse am jeweiligen Ort klimafreundlich decken".
Wenn die Klimaziele Maßstab sind, werden kaum noch Straßen gebaut
Beim Klimacheck kämen auch generell selten neue Straßenbauprojekte heraus, meist würden sich Projekte im Umweltverbund von Rad- und Fußverkehr sowie ÖPNV ergeben, skizziert Lichtblau weiter. Es sei dringend notwendig, die planerischen Annahmen, die vor 10 bis 30 Jahren getroffen wurden, zu überwinden und auf die neuen Vorgaben des Klimaschutzes abzustimmen. Auch müsse berücksichtigt werden, dass etwa die EU-Kommission die Kosten für eine Tonne CO2 auf bis zu 800 Euro prognostiziere. Dann würden sich ganz andere "Kosten-Nutzen-Faktoren" für aktuelle Projekte etwa im Straßenbau ergeben. Ob das dann heiße: "Nie wieder Straßenbau?" müsse man von Fall zu Fall entscheiden. Wenn eine Straße etwa für den ÖPNV essentiell sei, müsse man sehen, wie man das klimaneutral hinbekomme, etwa mit Kompensationsmaßnahmen. Es bedürfe einer "breiten Alternativprüfung". Lichtblau konstatierte:
"Wir haben ein hohes Zielwissen, aber noch wenig Transformationswissen".
Parameter aus der Vergangenheit sind überholt
In diesem Sinne für eine komplette Überarbeitung des Bundesverkehrswegeplans sprach sich auch Dr. Philine Gaffron von der Technischen Universität Hamburg aus. Die in der Vergangenheit getroffenen Annahmen und Parameter des Plans seien völlig überholt im Hinblick auf die Klimaschutzgesetze, ebenso die Verkehrsprognosen. Es gebe keine strategische Umweltprüfung wie in Österreich und wie sie etwa die EU vorsieht. Auch fehlten sogenannte Stützjahre als Prüfsteine über den Zwischenstand. Die Bedarfsüberprüfung sei hier entscheidend und eine große Chance für einen Neustart bei BVWP. Bisher würde beispielsweise die Kosten-Nutzenrechnung zu 90 Prozent von "Reisezeitgewinnen" bestimmt.
Reisezeitgewinn ist überbewertet
Das führe in der Praxis aber oft zu noch größeren Distanzen und keiner Einsparung von CO2-Emissionen. Gaffron monierte, dass es kaum Evaluierungen gebe, ob einzelne Projekte die Annahmen auch in der Praxis erfüllten. So gebe es trotz des massiven Straßenbaus der letzten Jahrzehnte immer mehr Stau und nicht weniger. Auch sei es essentiell, eine Gesamtbilanz der CO2-Emissionen zu ermitteln, inklusive der Bauemissionen und Umweltkosten. Zudem mahnte Gaffron eine Beteiligung der jüngeren Generationen bei der Bedarfsprüfung an. Ziel müsse auch eine Entkoppelung des Wirtschaftswachstums von der Verkehrsleistung und dem CO2-Ausstoß sein.
Verkehrsministerium verweigert Antworten
Der Vertreter des Bundesumweltministeriums, Staatsekretär Christian Kühn warf dem beim BVWP federführenden Bundesverkehrsministerum vor, die entscheidende Antwort aktuell schuldig zu bleiben, wie denn die Klimaschutzziele erreicht werden sollen. Die vom FDP-Minister Volker Wissing und seiner Partei vorgeschlagene Beschleunigung des Bundesfernstraßenbaus sei damit inkompatibel und "völlig aus der Zeit gefallen", wie der gesamte Bundesverkehrswegeplan, dessen Grundannahmen nicht mehr passten. Das habe auch eine aktuelle Debatte über den Bau der A100 in Berlin im Bundestag gezeigt, die sicher nicht als "Klimaschutzprojekt" bezeichnet werden könne. Die Diskussion habe aber auch erwiesen, dass die Vertreter der zwei Lager in völlig unterschiedlichen Welten lebten. Die ideologische Diskussion sei "schwer zu knacken".
Nabu: Methodisch ist Österreich einen Schritt weiter
Österreich sei in dieser Hinsicht einen methodischen Schritt weiter, stellte der Vertreter des Naturschutzbundes, Nabu-Präsident Jörg-Andreas Krüger fest. Er sieht in Deutschland eine "Scheindebatte aus den 70er- oder 80er-Jahren und sprach sich für die österreichische Herangehensweise aus unter der Leitfrage, wie viel Energie überhaupt für den Sektor noch zur Verfügung stünde. Solange das fachlich nicht geklärt sei, müsse ein Moratorium für Neubauprojekte greifen, foderte Krüger. Es dürfe kein Cent mehr für neue Autobahnen ausgegeben werden.
Priorität auf Erhalt statt Neubau
Und ohnehin müsste die Priorität auf dem Erhalt der vorhandenen Verkehrsinfrastruktur liegen, nicht auf dem Neubau. Krüger mahnte auch ein Überdenken im Hinblick auf die sozialen Aspekte des aktuellen Verkehrssystems an, etwa von Privilegien wie der Pendlerpauschale oder dem Dienstwagenprivileg. Es brauche eine Verkehrswende im Kopf, weg vom Motorisierten Individualverkehr und eine Antwort, wie man den Menschen den Umstieg ermöglichen könne. Der Verkehr dürfe nicht einfach "weiter vor sich hin wachsen".
BUND: Dreiklang aus Suffizienz, Effizienz und Technologie
BUND-Vorsitzender Olaf Bandt warf dem Verkehrsministerium vor, es wolle noch nicht einmal die "wissenschaftlichen Grundlagen" erforschen und als Basis des Handelns heranziehen, unter Einbeziehung von Faktoren wie der grauen Energie von Bauprojekten und der Schädigung etwa von Mooren, die zerstört würden. Diese Politik der "Verneinung" sei "irrational und ideologiegetrieben", kritisierte Bandt. Er wünsche sich, dass man sich wie in Österreich wenigstens auf ein Vorgehen auf wissenschaftlichem Fundament einige. Bandt forderte einen Dreiklang aus Suffizienz, Effizienz und Technologie, um überhaupt eine Chance zu haben, die Klimaschutzziele im chronisch säumigen Verkehrssektor noch zu erreichen. Man müsse Mobilität verlagern und Entfernungen verkürzen. Es gehe letztlich auch um die große Grundsatzfrage, wie man künftigen Generationen eine ebensolche "Freiheit der Mobilität" erhalten könne, wie sie die aktuelle Generation hat.
Widerspruch von Straßenbau zum Moorschutzplan
Es brauche auch "schnelle Antworten" aus dem Verkehrsministerium, mahnte auch Staatsekretär Christian Kühn an. Viele Straßenplanungen stünden in diametralem Widerspruch etwa num Moorschutzplan des Umweltministeriums. Man müsse abklopfen, was sich seit Beschluss des Verkehrswegeplans getan habe. Vieles werde dann nicht mehr zu realisieren sein, meinte Kühn.
Priorisierung von Schieneninfrastruktur
Für eine Priorisierung von Schieneninfrastruktur sprach sich die als Gast geladene Klimaschutzministerin von Rheinland-Pfalz Katrin Eder (Grüne) aus. Sie bezweifelte auch die Klimaschutzkompatibililtät des aktuellen Kosten-Nutzen-Faktors, der häufig noch Straßenbauprojekte bevorzuge. Wichtig sei auch eine Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken, die bevorzugt vorangetrieben werden müssten, etwa die Hunsrück-Bahn.
Positives Zukunftsbild: "Radfahren tut nicht weh"
Im Fazit konstatierte Günther Lichtblau, dass man diese Themen beim emotionalen Topos Mobilität deutlich besser und klarer kommunizieren müsse, aus der Fachwelt in die Gesellschaft hinein. So habe es etwa in Österreich nach dem Baumoratorium etwa keinen erwarteten "Shitstorm" gegeben, sondern weitgehende Akzeptanz. Es vollziehe sich auch ein Wandel in der Gesellschaft, brachiale Straßenbauprojekte würden nicht mehr uneingeschränkt begrüßt, sondern kritisch betrachtet. Er appellierte aber, dabei dringend eine positive Vision zu zeichnen.
"Radfahren tut nicht weh. Die Mobilität der Zukunft wird besser, billiger, grüner und gesünder", appellierte Lichtblau.
Man müsse Forschen und Begeistern, meinte Lichtblau in Ergänzung des Appells von Philine Gaffron, die Wissenschaft müsse Forschen und Fordern. Gaffron konstatierte selbstkritisch, die Fakten und Argumente seien seit Jahrzehnten klar und in der Forschung anerkannt. Dafür habe sich aber faktisch wenig geändert.
"Wir müssen vom Zählen ins Erzählen kommen", rief Gaffron abschließend auf.
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