Brexit-Chaos: Großer Hafen muss sich auf schlimmstes Szenario vorbereiten - Mark Dijk: Vorbereitung auf den Worst Case
Wir reden immer nur theoretisch über den Brexit. Keiner weiß wirklich, was da auf die Unternehmen zukommt. Als großer Hafen müssen Sie sich dennoch vorbereiten. Welche unterschiedlichen Szenarien wären denn aus Ihrer Sicht denkbar?
Mark Dijk Denkbar ist vieles aber keiner weiß es ganz genau. Die politische Lage ist und bleibt ja für alle Beteiligten völlig unklar. Zurzeit kann man sich im Zweifelsfall nur auf das schlimmste Szenario vorbereiten: Ab 29. März haben wir eine neue EU- Außengrenze und Großbritannien ist für EU-Mitglieder ein Drittstaat. Bisheriger EU-Binnenhandel wird deklarierungspflichtiger Import oder Export und braucht entsprechende Import-Kontrolle und Export-Zertifikationen. Diese brauchen Zeit, Personal und Geld. Egal ob Hard Brexit, Soft Brexit oder verschobener Brexit: Wir hoffen, dass alle in der Vorbereitung auf den Worst Case weit fortgeschritten sind.
Viele konkrete Informationen sind bisher nicht bekannt. Können Sie einschätzen welche praktischen Auswirkungen der bisher ausgehandelte Vertrag auf den Hafenbetrieb hätte und was der harte Brexit bedeuten würde?
Der Brexit wird enorme Auswirkungen haben. Großbritannien ist für Rotterdam hinter Russland vom Volumen her das zweitwichtigste Herkunftsland für die über das Meer an- und abtransportierten Güter. Auch im Gesamtumschlag steht die Union von England, Schottland und Nordirland an vierter Stelle mit 40 Millionen Tonnen und einem Anteil von 8,5 Prozent. Einige Warensegmente werden besonders betroffen sein. Etwa die Wirtschaftszweige, in denen die niederländische und die britische Wirtschaft besonders verzahnt sind – neben Lebensmittelindustrie etwa auch Bereiche wie Chemie, Kunststoffe, Elektronik, Transportmittel oder Metallverarbeitung.
Vor welchen Herausforderungen sieht sich der Hafen beim Umschlag?
Für den Warenumschlag ist vor allem der Import von Lebensmitteln eine Herausforderung. Hier kommt nicht nur die Verzollung auf alle Beteiligten in der Supply Chain zu, sondern auch medizinische Untersuchung und Beaufsichtigung. Denn die EU sorgt ja auch für Verbrauchersicherheit und nun gelten für Waren aus UK dann auch die Anforderung an die Überprüfung wie für andere Staaten aus Übersee. Außerdem müssen frische Waren durch den zu erwartenden zeitlichen Mehraufwand nun länger gelagert werden. Gehen wir von einer um einen halben Tag längeren Verweildauer einer Ware aus, womit unsere Partner vor Ort kalkulieren: In dieser Zeit müssen alle Waren gekühlt werden. Das kostet Geld und Zeit. Zusätzlich warten auch die Lkw auf ihre Abwicklung und verursachen Staus.
Mittel- und langfristig kann die Wiedereinführung von Handelszöllen zu Veränderungen in Produktionsprozessen und Distributionssystemen führen, was geringere Handelsströme nach sich ziehen könnte. Es bietet Rotterdam jedoch auch Chancen: zum Beispiel, wenn Unternehmen ihre Tätigkeit aus dem vereinigten Königreich nach Rotterdam verlegen. Der Hafenbetrieb und die Stadt Rotterdam arbeiten dabei eng zusammen.
Wie bereiten Sie sich denn auf diese wirklich sehr unterschiedlichen Eventualitäten vor?
Wir sind schon sehr lange dran. Als Hafenbetreiber können wir natürlich nicht alles direkt beeinflussen, aber unseren Teil beitragen. Unsere Maßnahmen zum Ausbau von Hafeninfrastrukturen helfen, zumindest andere Staus zu vermeiden. Außerdem haben wir wichtige Partner an Bord, die bereits relevante Strukturen liefern oder weiter ausbauen.
Ein Problem könnten, falls der harte Brexit kommt, die Abstellflächen für Container und Lkw sein. Hat Rotterdam da ausreichend Kapazitäten?
Der Brexit kann zu Staubildung bei den Terminals im Hafen führen, da zusätzliche Formalitäten die Abfertigung verzögern werden, etwa, wenn Frachtpapiere nicht entsprechend vorbereitet sind. Um dieses Risiko möglichst zu verringern, verhandelt der Hafenbetrieb mit Terminalbetreibern und umliegenden Gemeinden über die Realisierung zusätzlicher Parkplätze für Lkw-Transporte auf den Terminals und in ihrer Nähe.
Theoretisch könnte es aber auch sein, dass überhaupt keine zusätzlichen Parkplätze benötigt werden. Je mehr Verlader und Spediteure sich beim niederländischen Port Community System Portbase anmelden desto weniger zusätzliche Parkplätze werden notwendig.
Was ist Portbase?
Portbase ist das nationale Port Community System. Die aktuell neu eingerichtete Website www.getreadyforbrexit.eu ist darauf ausgerichtet, die Parteien der Logistikkette, wie Importeure, Exporteure, Transporteure und Spediteure, zu informieren und zu aktivieren. Für jede Zielgruppe wurde eine ‚Kundenreise‘ erstellt, in der Schritt für Schritt gezeigt wird, welche Aktion wann und von wem durchgeführt werden muss, um auch nach dem 29. März schnell über die niederländischen Häfen im- oder exportieren zu können. Die kooperierenden Parteien rufen die Logistikkette auf, sich an den gemeinsamen Lösungen für den Brexit in den niederländischen Häfen zu beteiligen. Die einheitliche Herangehensweise sorgt für eine schnelle Abwicklung von Zollformalitäten, die durch den Brexit entstehen. So können die Lkw dann auch wieder schneller abfahren.
Der Hafen von Dover hat den Ernstfall mit einem Testlauf geprobt. Tun Sie so etwas auch und bringt das überhaupt etwas?
Auch der Hafen Rotterdam hat schon solche Dry Runs durchgeführt, zuletzt im Dezember 2018. Solche Dry Runs sind wichtig, weil sie Engpässe erkennen helfen. Wir stellen diese Ergebnisse auch Verkehrsplanern zur Verfügung. So kann man sich gezielter vorbereiten. Unsicherheitsfaktoren bleiben natürlich immer, zumal wir auch leider nicht genau wissen, wie sich die englische Seite darauf vorbereitet.
Ein weiteres Szenario, das im Raum steht, ist die Verzollung nach WTO. Könnte die kommen? Wie funktioniert die denn?
Wir können das natürlich nicht beeinflussen. Die Abwicklung von Außenhandel nach den WTO-Regeln ist eine Möglichkeit. Vielleicht sogar eine gute. Eine konkrete Abwicklung eines Imports oder Export hier in der Kürze zu schildern ist natürlich nicht möglich.
Das Hauptproblem ist auch weniger, welche Zollverfahren gelten, sondern überhaupt die Tatsache, dass Waren wieder verzollt werden müssen. Wir haben nun mit dem niederländischen Zoll eine der fortschrittlichsten Behörden vor Ort, der schon mit den ständig wachsenden Mengen an Importen und Exporten im Containerbereich in den letzten Jahren klargekommen ist. Doch auch dieser Partner geht von enormer Mehrbelastung aus und wird nun 10.500 Schiffe mehr – gleich nach welchem Verfahren – zollrechtlich kontrollieren müssen. Der Zoll, aber auch die niederländische Lebensmittel- und Warenbehörde, rekrutieren daher zusätzliches Personal – der Zoll sucht rund 900 neue Mitarbeiter.
Würde das gesamte Zollverfahren im Hafen abgewickelt?
Das ist eine gute Frage. Eigentlich besteht nach vollzogenem Brexit für den Warenverkehr mit Großbritannien nun definitiv im Hafen eine neue EU-Außengrenze. Aber natürlich wird die ganze Supply Chain und damit auch das Hinterland sich drauf einstellen müssen. Fehler und Verzögerungen sowie Handelsbedarf fangen schon beim Verlader an. Konkret heißt das etwa im Extremfall, dass ein Verlader etwa aus Deutschland ohne Zollnummer oder ordnungsgemäßer Umsatzsteuererklärung keinen Zugang zu einem Terminal in Rotterdam erhält.
Die korrekte Verzollung beginnt also schon beim Verlader. Gerade in der Brexit-Zukunft wird es immer mehr auf die Digitalisierung und Automatisierung der Deklarationsprozesse ankommen. Der Echtzeitaustausch von Informationen und deren Aktualisierung werden entscheidend sein, um Fehler zu vermeiden.
Unterstützt der Hafen die Verlader und ihre Speditionen bei diesen digitalen Prozessen?
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Digitale Plattformen für den Austausch von Informationen hat der Hafen Rotterdam schon lange gefördert, etwa Portbase. Angesichts der Tatsache, dass RoRo- und die Shortsea-Terminals noch nicht über die ICT-Infrastruktur verfügen, die für die Abfertigung des Drittländerverkehrs erforderlich ist, hilft der Hafenbetrieb Rotterdam über sein Tochterunternehmen Portbase mit einem Anschluss an ein ICT-System, welches – genauso wie es bei den Containerterminals der Fall ist – die Formalitäten vollständig automatisiert. Dies stellt sicher, dass der Handelsverkehr nach Großbritannien möglichst wenig Verzögerungen verursachen wird.
Es gibt ja etliche Speditionen, die bisher praktisch nur innereuropäisch unterwegs sind. Was kommt da alles auf die zu?
Nicht nur ein Mehraufwand, sondern auch viel Neuland. Denn die meisten Unternehmen in den Niederlanden zum Beispiel haben laut Aussagen des niederländischen Zolls gar keine Erfahrung mehr mit Zolldeklarationen: Der Zoll schätzt die Zahl auf 35.000 Unternehmen, also potenzielle Verlader. Im September 2018 noch zeigten unsere Umfragen, dass nur 18 Prozent der Unternehmen in den Niederlanden mit ihren Vorbereitungen bereits gestartet waren. Hier gilt es vor allem, sich schnell zu informieren. Mit der Seite getreadyforbrexit.eu etwa bietet Portbase zusammen mit anderen Partnern umfassende Hilfestellungen.
Hilfestellungen in welcher Form?
Die Initiatoren der Website sind Portbase, die Hafenunternehmerorganisation Deltalinqs, die Interessenorganisationen Fenex, Evofenedex sowie Transport en Logistiek Nederland/AFTO. Gemeinsam mit dem niederländischen Zoll, den Hafenbetrieben von Amsterdam und Rotterdam, den Fährunternehmen und den Shortsea-Terminals arbeiten sie seit September dieses Jahres an einer niederländischen Branchenlösung für den Brexit in den niederländischen Häfen, die der EU-Gesetzgebung entspricht. Dieses Vorgehen ermöglicht eine zu 100 Prozent digitale und automatisierte Abwicklung der Zollformalitäten, mit optimaler Datennutzung. Alle Informationen gehen der Fracht voraus. Sowohl für den Shortsea-Verkehr als auch für den Fährverkehr entsteht ein Eingang für alle Terminals. Auf diese Weise wird eine intelligente Beaufsichtigung des Zolls möglich, mit hoffentlich minimaler Beeinträchtigung der Prozesse.
Könnten die Verlader die nötigen Formalitäten ad hoc stemmen?
Ad hoc wird es natürlich zu Umstellungen und Problemen kommen. Niemand kann eine Neuordnung des Warenverkehrs mit erhöhtem Handelsvolumen und Zollbarrieren nach einer EU-Mitgliedschaft Großbritanniens von 46 Jahren einfach so stemmen. Wer sich aber auf das schlimmste vorbereitet, wird sich schneller umstellen können und auch mit weniger schlimmen Szenarien klarkommen.
Positiv ist das aber alles nicht. Es geht nur darum, die Zukunft weniger schlimm zu gestalten.
Das Interview führte Christine Harttmann
FOTO: PORT OF ROTTERDAM
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