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Mercedes-Benz eActros 600: Wie ein Schwarm Hummeln

Wenn der Mercedes-Benz eActros 600 aus dem Stand anzieht, brummt die Luft vor elektrischer Energie. Die ersten Exemplare des schweren E-Lkw gehen dieser Tage zu ausgesuchten Kunden. Wir durften einen davon näher unter die Lupe nehmen. Dieser Text basiert auf einem Beitrag von Robert Domina in der unabhängigen Fachzeitung Transport 9/2024.

In dieser Aufmachung werden die ersten eActros 600 ausgesuchten Kunden zur Erprobung überlassen. Mercedes-Benz Trucks verspricht mit 600 kWh Akku-Kapazität (1) eine Reichweite von 500 Kilometern (2) – auch unter widrigen Bedingungen. Wir konnten den eActros 600 rund um seine Geburtsstätte Wörth am Rhein näher unter die Lupe nehmen. | Bild: Daimler Truck
In dieser Aufmachung werden die ersten eActros 600 ausgesuchten Kunden zur Erprobung überlassen. Mercedes-Benz Trucks verspricht mit 600 kWh Akku-Kapazität (1) eine Reichweite von 500 Kilometern (2) – auch unter widrigen Bedingungen. Wir konnten den eActros 600 rund um seine Geburtsstätte Wörth am Rhein näher unter die Lupe nehmen. | Bild: Daimler Truck
Mercedes-Benz Trucks | Robert Domina
Test

Nein – eine Straßenbahn klingt definitiv anders. Viel rumpliger, wie Metall auf Metall. Beim neuen eActros hingegen rollt Gummi auf Asphalt. Viel leiser, aber von außen kommt das Summen der E-Motoren hin. Innen hingegen sind die beiden E-Motoren an der Antriebsachse kaum zu hören. Erst ab 80 km/h summt es in meinen Ohren. „Das sind mehr die Reifen“, klärt mich Dirk Stranz, Press-Test-Expert bei Daimler Truck auf. Er kennt den eActros durch und durch und ist heute mein Fahrer. Weil: Versuchs-Truck – da dürfen andere nicht ans Volant.

Bevor wir auf das Test-Oval gehen und anschließend einen Törn in die Pfalz unternehmen, schauen wir uns den batterieelektrischen Truck genauer an.

Dass der eActros 600 eigentlich einen Tick zu lang ist, sieht man ihm nicht an. Sein Radstand von 4.000 mm lässt vermuten, dass er den neuen EU-Längen-Richtlinien entspricht. Nach vorne wuchs die Frontpartie um 80 mm und erlaubt damit größere Eckradien, was wiederum einer der Hauptgründe für die stark verbesserte Aerodynamik im Vergleich zum bewährten Actros ist. Der neue Actros L gleicht in diesen Grundmaßen dem eActros 600.

Press-Test-Expert Dirk Stranz nimmt uns mit auf das Wörther-Test-Oval mit seinen zwei Steilkurven. | Bild: R. Domina

Press-Test-Expert Dirk Stranz nimmt uns mit auf das Wörther-Test-Oval mit seinen zwei Steilkurven. | Bild: R. Domina

Auffallend auch die neuen Spoiler an den A-Säulen. Sie sorgen für verbesserte Umströmung ohne Verwirbelung und halten als Nebeneffekt die Seitenscheiben sauber. Auf der rechten Seite gibt es nach wie vor den Rampen- und Frontspiegel. Warum integriert man diese nicht endlich ins ohnehin vorhandene Spiegel-­Ersatzsystem? Weil, so die Antwort eines Entwicklers, diese Spiegel praktisch „irrelevant“ für die aerodynamischen Qualitäten der Fahrzeugfront seien.

Weiters fallen die neuen Radkästen vorne auf: Sie lassen sich mit Gummiprofilen an die beiden gängigen Radgrößen 315/70 T 22,5 (im Breitformat 385/60 R 22,5) anpassen. Auf die sich weit nach vorn wölbende Frontklappe ist Dirk Stranz stolz:

„Die bleibt jetzt im oberen Drittel genau da stehen, wo der Fahrer sie loslässt. Ein Vorteil, wenn man keine 1,80 groß ist…“.

Von der Seite betrachtet fallen nur beim direkten Vergleich mit dem bisherigen Actros die Endkantenklappen auf. Sie sind nach unten hin nun deutlich breiter und schließen die Lücke zum Auflieger etwas enger. Nach oben hin scheint die Lücke von der Seite her gesehen jedoch weiter auf zu gehen. Das liegt am nach hinten versetzten Vorsattelmaß. Das ist so gewählt, dass bei gleichmäßiger Beladung auf das zulässige Gesamtzuggewicht die Achslasten eingehalten werden.

Schwere Maschine

Was man nicht sehen kann, verbirgt sich auf dem Dach: Dort überbrückt jetzt ein kleiner Vor-Spoiler die Spalte zwischen Dach- und dem Hauptspoiler. Aber warum baut man nicht einen Dachspoiler, der diesen ­aerodynamisch ungünstigen Spalt gleich vermeidet? Weil das nicht funktioniert – jedenfalls so lange der Dachspoiler in der Höhe verstellbar bleiben soll. Ohne Spalt verklemmt sich’s da oben.

Die Frontbox in ihrer ganzen Pracht (v.l.n.r.): Hochstrom- Verteiler, in der Mitte der Regelungs- Block mit gut versteckten 24-Volt-Batterien, ganz rechts der Kühler mit Zweikreis- Kühlsystem.

Die Frontbox in ihrer ganzen Pracht (v.l.n.r.): Hochstrom- Verteiler, in der Mitte der Regelungs- Block mit gut versteckten 24-Volt-Batterien, ganz rechts der Kühler mit Zweikreis- Kühlsystem. | Bild: R. Domina

Der Mercedes-Benz eActros 600 ist schwer. Sehr schwer. Unser Test-Truck bringt als Sattelzugmaschine 11.600 kg auf die Waage. Zum Vergleich: Ein gut ausgestatteter Actros 1848 wiegt um die 7.660 kg. Macht also knapp vier Tonnen Mehrgewicht, die fast ausschließlich aufs Konto der Batterien gehen. Immerhin: Der Gesetzgeber gesteht dem E-Lkw zwei Tonnen Extra-Gesamtgewicht zu, was den Nutzlastverlust von vier auf zwei Tonnen reduziert. Aber auch die Achslasten verdienen Aufmerksamkeit. Denn die Belastung der Vorderachse ist beim eActros viel größer als beim Diesel-Pendant. Die drei mal 1,5 Tonnen der Batterien drücken schwer auf die Vorderachse. Vorne wird also eine Neun-Tonnen-Achse benötigt, die sich am besten mit einer Luftfederung realisieren lässt. Die erlaubt auch ein Anheben des Chassis, sollte es mal zu Konflikten in Sachen Bodenfreiheit kommen. Denn der Platz zwischen Fahrbahn und Batterie-Unterseite ist ziemlich knapp.

Die quer zur Fahrtrichtung montierten Akkupacks in Fahrzeugbreite sind von unten an den Rahmen geklemmt, sie könnten laut Aussage der Entwickler bei einem Seitenaufprall zur Seite hin ausweichen und so Aufprallenergie abbauen. Insofern ist die Akku-Anordnung ein ziemlich cleverer Ansatz. Anders ließe sich die Unterbringung von 600 kWh an einem Sattelzugmaschinen-Chassis nicht realisieren. Durch die Verwendung der hauseigenen eAchse ist der Platz zwischen Vorderachse und Hinterachse praktisch zu hundert Prozent für die Akkus nutzbar.

Ans Limit gegangen

Und es scheint auch so zu sein, dass Mercedes-Benz Trucks den SoC-Level, also die tatsächlich nutzbare Batterieleistung deutlich höher ansetzt: Aus Gründen der Batterieschonung begrenzen viele Anbieter die nutzbare Kapazität auf 70 bis 80 Prozent des Nominalwertes, was logischerweise die Reichweite einschränkt. Mercedes-Benz Trucks scheint da zumindest in Richtung Vollladung bis zum Limit zu gehen, was auch die bisher bekannt gewordenen Reichweiten erklärt. Ab jetzt geht’s auf dem Test-Oval in Wörth rund: Dirk Stranz demonstriert mir die verschiedenen Fahrmodi „Range“, „Economy“ und „Power“. Die Leistungsstufen lassen sich mit einem Taster am rechten Lenkstockhebel anwählen. Im rechten Rundinstrument, dem Ökonometer, wird das Leistungsangebot angezeigt.

Der Ladeanschluss für den CCS-Stecker liegt in angenehmer Höhe und ist schnell eingestöpselt und wieder gelöst. | Bild: R. Domina

Der Ladeanschluss für den CCS-Stecker liegt in angenehmer Höhe und ist schnell eingestöpselt und wieder gelöst. | Bild: R. Domina

Von Range bis Power

Das Programm „Range“ weist schon im Namen auf die Reichweiten-Optimierung hin. Hier gibt der Computer nur 70 Prozent der Dauerleistung von 400 kW oder 544 PS frei. Das wären dann immer noch 381 PS. Damit kommt man zumindest in brettlebenen Gegenden auch mit Gegenwind noch klar. Das „Economy“-Programm deckt die meisten Einsatzspek­tren ab: Bis zu 85 Prozent abrufbare Leistung zeigt die grüne Skala im Ökonometer, damit lässt sich schon ‘ne Menge Spaß haben. 460 PS Dauerleistung wären das umgerechnet, gefühlt ist das aber deutlich sportlicher. In der Praxis dürfte sich dieses Potenzial in sicheren und den Verkehrsfluss weniger störenden Einfädel-Vorgängen niederschlagen, da kann man sich drauf freuen.

Gut: Das Power-Programm lässt schon erahnen, dass hier die wilde Luzi losgelassen wird. Ist aber vernünftigerweise nur zu empfehlen, wenn mal ganz schnell aus Sicherheitsgründen am Berg überholt werden muss. Denn die Hochleistungseinstellung kostet richtig Energie. Vor allem aber Verschleiß: Traktion und Reifen kommen da schnell an ihre Grenzen, eine Begrenzung der Anfahrleistung ist deshalb zum Schutz des Antriebsstranges eingebaut.

Ein weiteres Feature, das mir Dirk Stranz hier in aller Ruhe demonstrieren kann, ist das Ein-Pedal-Fahren. Im Lkw unterscheidet sich diese Fahrweise ganz erheblich vom gewohnten Beschleunigen, Rollen lassen, Segeln und schließlich Bremsen per Retarder. Diese gewohnte Fahrweise funktioniert im eActros natürlich auch. Das Ziehen des Retarderhebel bewirkt beim eTruck halt einen Bremsvorgang mit Rekuperation und nicht die Erzeugung von Wärme, die am Ende übers Kühlsystem wirkungslos verpufft.

Die Antriebseinheit der eAchse ist der Punkt mit der niedrigsten Bodenfreiheit. Der Kasten links davon ist das letzte von drei Batteriepaketen. | Bild: R. Domina

Die Antriebseinheit der eAchse ist der Punkt mit der niedrigsten Bodenfreiheit. Der Kasten links davon ist das letzte von drei Batteriepaketen. | Bild: R. Domina

Die vordere Bugschürze reicht weit nach hinten und kanalisiert den Luftstrom. Die Bodenfreiheit ist durch die Batteriepakete niedriger als bei den Dieseln. Die vordere Luftfederung ist deshalb obligatorisch, um das gesamte Chassis im Falle des Falles etwas anheben zu können. | Bild: R. Domina

Die vordere Bugschürze reicht weit nach hinten und kanalisiert den Luftstrom. Die Bodenfreiheit ist durch die Batteriepakete niedriger als bei den Dieseln. Die vordere Luftfederung ist deshalb obligatorisch, um das gesamte Chassis im Falle des Falles etwas anheben zu können. | Bild: R. Domina

Die drei Batteriepakete à 200 kWh (nutzbar) sind quer unter den Rahmen montiert. Bei einem Seitenaufprall können sie seitlich ausweichen. | Bild: R. Domina

Die drei Batteriepakete à 200 kWh (nutzbar) sind quer unter den Rahmen montiert. Bei einem Seitenaufprall können sie seitlich ausweichen. | Bild: R. Domina

Seiner Zeit voraus

Das Ein-Pedal-Fahren lässt sich über ein Menü am Sekundär-Bildschirm ganz schnell finden und per Finger-Touch aktivieren. Jetzt liegt der Nullpunkt im Ökonometer, also das neutrale Rollen irgendwo bei vielleicht zehn Prozent Gaspedalstellung. Lupft man dieses gefühlvoll, lässt sich ein fein dosierter Rekuperations-Vorgang einleiten. Bei Nullstellung Gaspedal (besser: „Fahrpedal“), bremst die Generatorfunktion der E-Motoren ganz ordentlich aber auch gefühlvoll, einem Retarder vergleichbar.

Beim Wechsel auf einen E-Truck wird der routinierte Trucker wohl eher wie gewohnt den Retarderhebel ziehen, will er Fahrt aus der Fuhre nehmen. Ob sich altgediente Fuhrleute an den Einpedal-Modus gewöhnen wollen? Die Zukunft wird es zeigen. Ich für meinen Teil bin da skeptisch. Aber eines weiß ich: Wer je vom Diesel zum E-Truck wechselt, will nichts anderes mehr. Vorausgesetzt allerdings, er muss sich keine Sorgen um Lade-Möglichkeiten und -Zeiten machen. Der eActros 600 ist auf jeden Fall weiter als unsere Lade-Infrastruktur. Sogar eine Vorrüstung für Megawatt-Laden ist bestellbar, die Säulen dafür leider noch nicht. Besonders freut mich: Die Ladeanschlüsse sind beidseitig vorhanden. Offenbar hatten die Entwickler bereits im Vorfeld auch schon ihre liebe Not mit zu kurzen Ladekabeln. (rod)

Auf einen Blick

+ Sehr gut differenzierte Fahrprogramme, Geräuschlevel, beidseitige Ladebuchsen, Aerodynamik

- Bodenfreiheit

1 Der eActros 600 verfügt über drei Batteriepakete mit jeweils 207 kWh. Diese bieten eine installierte Gesamtkapazität von 621 kWh. Nennkapazität einer neuen Batterie, basierend auf intern definierten Rahmenbedingungen. Diese kann je nach Anwendungsfall und Umgebungsbedingungen variieren.
2 Die Reichweite wurde unter spezifischen Testbedingungen, nach Vorkonditionierung mit einer 4x2 Sattelzugmaschine mit 40 t Gesamtzuggewicht bei 20° C Außentemperatur im Fernverkehrseinsatz, intern ermittelt und kann von den nach der Verordnung (EU) 2017/2400 ermittelten Werten abweichen.

Dieser Inhalt gehört zu

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70771 Leinfelden-Echterdingen
Deutschland